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Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit ZEIT Green entstanden.

Das Schreiben, das Kerstin Erbe vor Gericht bringen wird, trudelt am 5. Mai 2022 in der Zentrale von dm in Karlsruhe ein. Es ist an niemanden persönlich adressiert, bekommt im Servicecenter die Nummer 4820022 zugeordnet und wird als „Kundenanfrage zur Bearbeitung” an sieben Produkt- und Markenmanager des Drogerieriesen weitergeleitet. Auf den ersten Blick geht es um Allerweltsprodukte: Seife, Spülmittel, Gefrierbeutel, feuchtes Toilettenpapier.

Kerstin Erbe, die einzige Frau in der Geschäftsführung von dm, verantwortet alle 28 Eigenmarken und die Nachhaltigkeitsstrategie. Von Forschern der Technischen Universität (TU) Berlin hat sie berechnen lassen, wie sich dm-Produkte nicht nur aufs Klima auswirken, sondern auch auf Luft, Böden und Gewässer. Die Firma will die Auswirkungen minimieren und das Unvermeidliche kompensieren, nicht irgendwo am anderen Ende der Welt, sondern hier in Deutschland. Für diese Initiative hat dm bereits 2021 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis gewonnen.

Kerstin Erbe kämpft als Nachhaltigkeitschefin von dm dafür, dass ihr Unternehmen ökologische Fortschritte auch verkaufen kann. Bild: DM

Das Schreiben, das nun eintrifft, stammt vom Verein Deutsche Umwelthilfe. Doch es klingt, als käme es von einer Behörde. Unter dem Aktenzeichen E22/05/05/11 wird dm aufgefordert, Produkte nicht mehr als klima- oder umweltneutral zu bewerben. Es liege eine „Irreführung in ver­brau­cher­schutz­recht­licher Hinsicht” vor, und man sei befugt, dies durch „geeignete Maßnahmen des kollektiven Rechtsschutzes zu unterbinden”. Innerhalb von acht Tagen sei eine Unterlassungserklärung abzugeben, ansonsten werde man „gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen”. Unterschrieben hat, mit freundlichen Grüßen, Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch.

Es ist der Anfang einer bis heute andauernden öffentlichen und juristischen Auseinandersetzung. Jürgen Resch, ein selbstbewusster, manchmal auch streitlustiger Mensch, hat vor ein paar Jahren im Dieselskandal die großen Autokonzerne mit eigenen Abgasmessungen unter Druck gesetzt. Nun, im Kampf gegen Green­washing, hat er Verfahren gegen mehr als 40 Unternehmen eingeleitet, die mit Begriffen wie “klimaneutral” geworben haben. Shell, BP, Euro­wings, Rossmann, Hello Fresh, Netto, Apple und der 1. FC Köln befinden sich darunter. Resch meint, die Unternehmen würden damit „die tatsächlichen Klimabelastungen kaschieren”. Bisher hat die Umwelthilfe alle Verfahren gewonnen – oder die Unternehmen haben vorher freiwillig eingelenkt. Vergangene Woche erst urteilte ein Gericht in erster Instanz, dass der Discounter Netto einen Fertigkaffee nicht mehr als klimaneutral bewerben darf.

Jürgen Resch geht als Chef der Deutschen Umwelthilfe gegen Greenwashing mit Werbebegriffen vor. Bild: DUH

Die Drogeriekette dm aber hält den Greenwashing-Vorwurf für zutiefst ungerecht. “Klimaneutral” lässt man sich wie viele andere Firmen noch verbieten, aber um das eigens entwickelte Wort “umweltneutral” und das Konzept dahinter kämpft dm. Dabei geht es Kerstin Erbe um Grundsätzliches: „Wenn selbst ernst gemeinte Bemühungen pauschal als Green­washing verunglimpft werden, machen Unternehmen im Zweifel lieber gar nichts mehr oder verheimlichen ihre Nachhaltigkeitsprojekte aus Angst vor Abstrafung”, sagt sie. Erbe ist eine Managerin, die den Dialog sucht und damit gut zur anthroposophisch geprägten dm-Kultur passt, die der mittlerweile verstorbene Firmengründer Götz Werner vorlebte und sein ältester Sohn Christoph weiterführt. Selbst die Zentrale heißt so: Dialogicum. Ein offener, wabenförmiger Bau, in dem die Konferenzräume nach Kräutern benannt sind.

Es hätte ein spannendes Gespräch werden können zwischen Resch und Erbe. Doch während dm auf eine Anfrage des Reporters sofort zusagt, will die Deutsche Umwelthilfe während eines juristischen Verfahrens kein öffentliches Streitgespräch führen. Dabei könnte der Fall beispielhaft für die Frage sein, wann der Vorwurf des Green­washings gerechtfertigt ist – und wann ein vorbildliches Projekt diskreditiert wird. Und größer noch: ob Unternehmen überhaupt noch einen grünen Weg nehmen und dies kommunizieren können, ohne Ärger zu bekommen.

Alles beginnt mit einem reumütigen KI-Unternehmer

Um zu verstehen, worum es eigentlich geht, hilft es, Dirk Gratzel zu treffen. Einen Mann, der sich für den ersten Menschen hält, der die Ökobilanz seines gesamten Lebens kennt. Gratzel holt einen im weißen Tesla am Bahnhof Gelsenkirchen ab. Im Auto erzählt er seine Geschichte: Als Unternehmer, der früh auf künstliche Intelligenz gesetzt hat, sei er viel geflogen, Jaguar gefahren und zu einem wohlhabenden Mann geworden. Bis er beschloss, dass er nicht schuld sein wolle, wenn die Welt zugrunde geht – und nach einem Weg suchte, das wiedergutzumachen.

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